Die
Vertreibung des Rechts aus Deutschland
Prof. Dr. Ingo Müller, Bremen------ „Anwalt
ohne Recht“ heißt die Dokumentation über das Schicksal jüdischer
Rechtsanwälte aus dem Kammergerichtsbezirk. Die hier Vorgestellten waren
rechtlos gestellt, bis man ihnen neben allen anderen Rechten sogar das Recht
auf Leben bestritt. Der Ausstellungstitel ist aber doppeldeutig. Anwälte
ohne Recht waren nämlich auch die im Beruf Verbliebenen, die sich nach
Vertreibung der jüdischen Standeskollegen stolz „deutsche Rechtswahrer“
nannten. Der 1933 eingetretene Verlust des Rechtsgedankens und der Rechtskultur
in Deutschland ist Gegenstand meiner Ausführungen, ein Verlust, von dem
wir uns bis heute nicht gänzlich erholt haben.
Die Gleichberechtigung der Juden vollzog sich im 19. Jahrhundert, wie auch die demokratische Entwicklung – und beides hat viel miteinander zu tun – nach dem Muster der Echternacher Springprozession: drei Schritte vorwärts, zwei zurück. In der Regel kamen Juden, allen Verfassungen und Bundesakten zum Trotz, nur in Juristenberufe, wenn sie sich der Karrieretaufe unterzogen. Das galt für Eduard von Simson, den ersten Reichsgerichtspräsidenten, ebenso wie für den Trierischen Advokaten Heinrich Marx – Vater von Karl – der, nachdem sein Wohnsitz preußisch wurde, seine Zulassung nur durch die Taufe rettete.
Erst die 1879 in Kraft getretene Reichsrechtsanwaltsordnung ermöglichte Juden den ungehinderten Zugang zu dem bis dahin öffentlichen Amt, fortan freien Beruf des Anwalts. Im Kaiserreich stellten Juden mehr als 10 % der Jurastudenten bei einem Bevölkerungsanteil von 1 %. Vorwiegend strebten sie in den Anwaltsberuf, teils aus Neigung, teils weil man ihnen den Zugang zu anderen Juristenberufen nach wie vor erschwerte...... Es waren vor allem neu sich entwickelnde Rechtsgebiete, die von jüdischen Wissenschaftlern, sehr oft Rechtsanwälten, dominiert wurden. Sie waren es, die die Rechtsmaterien begründeten und entwickelten.
Zum Beispiel das Wirtschafts- und Handelsrecht, als dessen Begründer Levin Goldschmidt gilt, 1860 einer der ersten jüdischen Professoren, und das in der Folgezeit von jüdischen Anwälten zur Blüte gebracht wurde, von Hermann Staub, Max Hachenburg und Julius Magnus, sämtlich Wirtschaftsanwälte und Verfasser grundlegender Kommentare zum Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht und gewerblichen Rechtsschutz.
Das gilt auch für das Arbeitsrecht, dessen Begründer Philipp Lotmar und dessen Nestor Hugo Sinzheimer ist, Frankfurter Anwalt und Honorarprofessor.----------- Das Prozessrecht (Straf- und Zivilprozess) war ebenfalls eine Domäne jüdischer Juristen: Adolf Wach und Leo Rosenberg als Zivilprozessualisten sind hier zu nennen, und Ewald Löwes und Werner Rosenbergs Großkommentar zum Strafprozessrecht erlebte im Jahr 2000 seine 25. Auflage. Der Prozessualist schlechthin, James Goldschmidt, Strafrechtslehrer in Berlin, Verfasser eines Lehrbuchs zum Zivilprozess, legte schon vor dem Ersten Weltkrieg den bis heute modernsten Entwurf einer Strafprozessordnung vor. Die Rechtssoziologie, von Max Weber und Eugen Ehrlich begründet, wurde von Hermann Kantorowicz, Professor in Kiel – sein Lehrstuhl wurde 1933 mit Georg Dahm besetzt – sowie den Rechtsanwälten Martin Beradt, Ludwig Bendix, Erich Eyck, Ernst Fraenkel, Friedrich Großhut und Hugo Sinzheimer entwickelt.
Führend waren jüdische Rechtsanwälte auch in der juristischen Publizistik. Horst Göppinger stellt in seiner Dokumentation über „Juristen jüdischer Abstammung im ,Dritten Reich’“1 allein 38 juristische Zeitschriften vor, die von ihnen gegründet, geleitet und herausgegeben wurden, vom Archiv für Civilistische Praxis bis zum Zentralblatt für Handelsrecht. Die bedeutendsten waren sicher die von Paul Laband, Hermann Staub und Otto Liebmann gegründete Deutsche Juristenzeitung (DJZ) sowie die seit ihrem Beginn von jüdischen Juristen geleitete und seit 1918 von dem schon erwähnten Max Hachenburg, dem Erfinder der Urteilsanmerkung, und Julius Magnus herausgegebene Juristische Wochenschrift (JW). 1933 übergab „Reichsrechtsführer“ Hans Frank die Schriftleitung der DJZ an Carl Schmitt, die Juristische Wochenschrift übernahm er selbst2. Die juristischen Fachverlage J. Heß Stuttgart, Bensheimer-Verlag, Dr. Walther Rothschild Verlag und Verlag Otto Liebmann teilten sich bei deren Arisierung die Verlage Franz Vahlen und C.H. Beck. Vor allem der juristische Verlag Otto Liebmanns, des Erfinders der beliebten Kurz-Kommentare, legte den Grundstein für den beispiellosen Aufstieg einer Münchner Verlagsbuchhandlung zum juristischen Monopolverlag.
Und auf das Recht der freien Berufe, speziell der Anwaltschaft, schienen jüdische Juristen ein regelrechtes Monopol zu haben. Adolf Weißlers „Geschichte der Rechtsanwaltschaft“3, Louis Levins Studie über „Die rechtliche und wirtschaftliche Bedeutung des Anwaltszwangs“4, Siegbert Feuchtwangers Grundlagenwerk über „Die freien Berufe“5, der Kommentar der Brüder Max und Adolf Friedlaender zur Rechtsanwaltsordnung6 und Julius Magnus’ Darstellung „Die Rechtsanwaltschaft“7 beschrieben und normierten die freie Advokatur und verteidigten sie gegen Angriffe, an denen es seit 1879 nie gefehlt hatte.
Jüdische Anwälte fand man im Vorstand der Liga für Menschenrechte, wo sie Kampagnen gegen die Todesstrafe führten8, als Publizisten der linksliberalen Presse – Erich Eyck bei der Vossischen Zeitung und Rudolf Olden beim Berliner Tageblatt – und als Autoren kleinerer Intellektuellenblätter wie Das Tagebuch, Das andere Deutschland, Die Weltbühne sowie Die Justiz, Zeitschrift zur Erneuerung des Rechtswesens. In den vierzehn Weimarer Jahren führten insbesondere Alfred Apfel, Max Hirschberg, Philipp Loewenfeld, Paul Levi, Hans Litten, Rudolf Olden und Kurt Rosenfeld den oft vergeblichen Kampf um die Republik; gegen die ausufernde politische Justiz, gegen das Militär und diverse rechtsradikale Terrororganisationen, von denen die SA nur eine war. Zwei der Genannten haben sich dabei den ewigen Hass Hitlers zugezogen. Rosenfeld, Reichstagsabgeordneter und mehrfach Ossietzky-Verteidiger, hatte im Meineidsprozess Abel den als Zeugen geladenen Adolf Hitler zu cholerischen Ausfällen provoziert, die dem Führer Ungebührstrafen von immerhin 1000 Reichsmark einbrachten9. Litten hatte im „Eden-Palast-Prozess“ als Nebenklagevertreter Widersprüche in den Aussagen des Zeugen Hitler aufgedeckt, was diesem sogar ein Meineidsverfahren eintrug. Während Rosenfeld nach dem Reichstagsbrand die Flucht nach Paris gelang, wurde Litten verhaftet und 1938 in Dachau in den Tod getrieben10.
Die hier Beschriebenen waren zwar nur eine Minderheit im deutschen Rechtsleben, aber sie prägten das Anwaltsbild in der Reichshauptstadt. Hier stellten jüdische Anwälte rund 60 % der Rechtsanwaltschaft.
Als deren Galionsfigur könnte man Max Alsberg bezeichnen. Der 1877 in Bonn Geborene war einer der erfolgreichsten Anwälte der Weimarer Republik, Honorarprofessor der Berliner Universität und bedeutender Fachautor11. Er galt als glänzender Redner, seine Plädoyers waren berühmt für die Einbeziehung sozialer und psychologischer Hintergründe. Bis heute unübertroffen sind seine drei Miniaturen „Das Weltbild des Strafrichters“, „Die Philosophie der Verteidigung“ und „Das Plaidoyer“12. Sein Theaterstück „Voruntersuchung“ wurde 1931 von Robert Siodmak verfilmt und sein Schauspiel „Konflikt“ hatte noch am 9. März 1933 mit Albert Bassermann und Tilla Durieux in den Hauptrollen Premiere am Deutschen Schauspielhaus. Bernt Engelmann nennt Alsberg ein Musterbeispiel für die enge Verbindung von freiem Beruf, Wissenschaft, Kunst und Literatur13. Auch Alfred Apfel, Martin Beradt, Erich Eyck, Rudolf Olden und Kurt Tucholsky – Juristen und außerdem Schriftsteller, Publizisten und Journalisten – standen für eine nie wieder erreichte Verbindung von Recht und Geist. In der „durch und durch verjudeten Gesellschaft“, gegen die Dr. Goebbels, der wohl gern dazugehört hätte, so hasserfüllt geiferte, herrschte laut Engelmann „eine Atmosphäre voller Geist und Witz, Toleranz, Humanität und – bei aller Geschäftstüchtigkeit – auch voller Noblesse“.
Zu keiner Zeit hatte es eine derart lebhafte Diskussion über die Rechtspolitik gegeben wie in den vierzehn Weimarer Jahren. Die Zulassung von Frauen zum Richteramt, die Bestrafung des „publizistischen“ Landesverrats, die politische Justiz gegen rechts- und linksorientierte Täter, die so genannten Fememordprozesse und neue Strafrechtsentwürfe, insbesondere das rechtspolitische Programm der SPD mit der geplanten Sicherungsverwahrung, all dies war Gegenstand nicht nur der juristischen Publizistik, sondern auch der öffentlichen Auseinandersetzung.
Schlagartig waren diese Kontroversen beendet mit den Zeitungsverboten und Massenverhaftungen nach dem Reichstagsbrand, der Entlassung jüdischer und republikanisch engagierter Richter und Hochschullehrer sowie dem Ausschluss jüdischer Rechtsanwälte nach den Gesetzen „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und „über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 193314 sowie mit der Gleichschaltung der Presse – auch der juristischen Fachpresse – und dem Verbot der juristischen Standesorganisationen. Nach dem Hinausdrängen des jüdischen und demokratischen Elements aus Rechtswissenschaft, Anwaltschaft und Publizistik herrschte eine geradezu gespenstische Einigkeit in juristischen Fragen.
Die Nationalsozialisten und vor allem deren Führer hatten nie etwas für das Juristische übrig, und die zahlreichen Prozesse seiner „Kampfzeit“, in denen er häufig Zeuge, nicht selten Angeklagter war, haben sein Verständnis für Rechtsregeln nicht gefördert. „Kein vernünftiger Mensch verstehe überhaupt die Rechtslehren, die die Juristen sich – nicht zuletzt aufgrund des Einflusses von Juden – zurechtgedacht hätten“, verriet Hitler in vertraulicher Runde. In der Juristenausbildung müsse jeder vernünftige Mensch „ein vollendeter Trottel“ werden, er wolle „alles tun, um das Rechtsstudium ... so verächtlich zu machen wie nur irgend möglich“15. Von Verträgen, Rechtsvorschriften, gar einer Verfassung hielt der Führer nichts; nicht einmal von selbst erlassenen Gesetzen wollte er sich einengen lassen. Vor allem fehlte ihm jedes Verständnis für Humanität, Zivilisation und Rechtskultur. Gegen alles ihm Missliebige forderte er „brutale Gewalt“ und „barbarische Rücksichtslosigkeit“. Die „sogenannte Humanität“ war für ihn nur „Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen“16. „Der mystische Vorgang, dass der Staat sich selbst Fesseln anlegt“, beschrieb Olden das Rechtsempfinden Hitlers, „sich durch Geschriebenes bindet, dem Schwachen eine Waffe gibt und sich ihr unterwirft – der Inbegriff der Zivilisation – ist ihm widerlich, erscheint ihm pervers, der Ordnung, die allein ihm verständlich ist, in einer ärgerlichen Weise zuwider“.
Dieses Unverständnis fürs Juristische wurde von weiten Kreisen der Justiz und der Rechtswissenschaft geteilt. Natürlich konnte die Rechtslehre auch damals nicht Brutalität, Einseitigkeit, Willkür und Rechtlosigkeit zu Prinzipien des neuen Rechts erklären. Damit hätte sie nicht nur dem System jede rechtliche Legitimität abgesprochen, sondern auch sich selbst für überflüssig erklärt. Aber nachdem alles, was sich an abendländischer Rechtskultur entwickelt hatte, nicht mehr galt, da dieses „unserer eigenen deutschen Art, die Welt anzuschauen, entgegengesetzt und widerwärtig“ war (E. Finke)17, konstruierte die Jurisprudenz „einen tiefergreifenden Gedanken der Rechtmäßigkeit“ (Heinrich Henkel)18, nämlich die „völkische Sinneinheit von Staat und Recht“ (Otto Koellreutter)19.
Um die Ideenwelt des Dritten Reichs zu verstehen, muss man sich klar machen, dass Begriffe, die für uns positiv besetzt sind, damals als Schimpfwörter galten und umgekehrt. „Autoritär“ galt als hohes Lob, „rücksichtslose und fanatisch-einseitige Einstellung“ als Tugend, „Gleichschaltung“ als erstrebenswertes Ziel. „Individualistisch“, „liberal“ und „pluralistisch“ waren Vernichtungsurteile, und „Aufklärung“, „Humanität“ und „Demokratie“ galten als entartete Ideen.
Auch alles, was wir heute als juristische Tugenden betrachten: Genauigkeit im Begrifflichen, Beachtung von Formalien, Rationalität, nüchterne Distanz und Vorurteilsfreiheit galt als Unart jüdischer Rechtsverdreher, als „Ausdruck einer Hilflosigkeit, einer Entwurzelung und Verweichlichung“ (Wolfgang Siebert). Die Richter sollten eben „nicht durch ein formalistisch-abstraktes Rechtssicherheitsprinzip beengt (sein, sondern) durch ... die vom Führer verkörperte Rechtsanschauung des Volkes feste Linie und ... wo nötig, ihre Schranken finden“ (Erik Wolf), „mit gesundem Vorurteil“ den Fall betrachten und „Werturteile fällen, die ... dem Willen der politischen Führung entsprechen“ (Georg Dahm).
Juristischen Scharfsinn und vorurteilslose Betrachtung des Falles lehnte man als „rationalistische Zergliederung“ als „Entwesung“ (Georg Dahm20) ab, an deren Stelle sollte eine „emotional-wertfühlende, ganzheitliche Betrachtungsweise“ (Hans Welzel21) treten. Der gewaltige Aufwand an ideologischen Floskeln, die uns mit 70 Jahren Abstand am Verstand einer ganzen Juristengeneration zweifeln lassen, diente dazu, den Brutalitäten des Nazi-Regimes eine scheinrechtliche Legitimität zu verleihen. Die Arbeit am Gesetzeswortlaut mit dem Ziel, dessen Anwendungsbereich zu bestimmen, also klassische Juristentätigkeit, diffamierte die Jurisprudenz als „Normativismus“, wie auch wissenschaftliche Methoden der Gesetzesauslegung als „positivistisch“ oder „jüdisch-liberalistisch“ abqualifiziert wurden. Erklärtes Ziel dieser „Rechtswissenschaftler“ war gerade, „die Erkennbarkeit des Gesetzes und die Berechenbarkeit der Rechtsfolgen“ aufzuheben (Heinrich Henkel)22.
So wenig die beflissene Legitimationsbeschaffung für das System der Rechtlosigkeit den Namen Rechtswissenschaft verdiente, so wenig waren die Strafrechtsverordnungen Gesetze. Im formellen Sinn waren sie es nicht, sondern bloße Verwaltungsdekrete. Auch materiell waren sie es nicht, denn sie ließen, z.B. im Strafrecht, die Grenze zwischen straflos und strafbar meist bewusst im Unklaren. Sie waren im Grunde „antinormative Normen“, die den Gerichten eine nur ungefähre Richtung geben und ihren Urteilen den Schein der Legitimation verleihen sollten, selbst wenn diese sich mit dem Wortlaut der „Gesetze“ längst nicht mehr vereinbaren ließen.---------- Wer in den zigtausenden von Todesurteilen der ordentlichen Justiz und der Sondergerichte, der Feldgerichte und Standgerichte, des Volksgerichtshofs und Reichskriegsgerichts nach Gesetzesverstößen und Rechtsbeugungen sucht (von denen es natürlich unzählige gab), bewertet sie nach rechtlichen Maßstäben, welche man damals als „normativistisch“ ablehnte. Die dort zitierten Gesetze waren nicht dazu gemacht, restriktiv ausgelegt zu werden und nicht von der Vorschrift erfasste Personen zu verschonen. Ihrem Sinn entsprach es, die Angeklagten – meist aus Abschreckungsgründen – umzubringen. Das bei diesem Anlass Gesetze zitiert wurden, geschah mehr zur Bemäntelung dieses Vorgangs.
Im Gerichtsverfahren sollte auch nicht mehr um das Ergebnis gestritten werden. An die Stelle des einst von Rudolf von Ihering propagierten Kampfes um das Recht, der nun angeblich „als Parteienstreit die Wahrheitsfindung gefährdete“, wurde die „Gleichrichtung der Verfahrenskräfte“ (Heinrich Henkel) gesetzt, oder volkstümlicher ausgedrückt: „Richter, Staatsanwälte und Verteidiger müssen „Kameraden einer Rechtsfront, ... gemeinsame Kämpfer um die Erhaltung des Rechts sein ... Die Gleichschaltung ihrer Aufgaben muss ihre praktische Zusammenarbeit und Kameradschaft verbürgen“23.
Nachdem 1945 alle anderen Fronten zusammengebrochen waren, hat die Rechtsfront als einzige gehalten. Die jüdischen Juristenkollegen waren zum großen Teil tot. Viele – wie Max Alsberg – hatten sich das Leben genommen, noch mehr waren ermordet worden, ein Großteil der Vertriebenen blieb im Exil, nur wenige kamen zurück.
Was auch nicht zurückkehrte waren Geist und Rechtskultur, denn mit den Menschen waren ihre Theorien und Ideen, ihre wissenschaftlichen Programme und Pläne vertrieben und vernichtet worden.
Die Lehrstühle der jüdischen Professoren blieben mit ihren Nachfolgern besetzt, ihre Bücher hatte man aus den Bibliotheken geworfen und großenteils verbrannt, ihre intellektuelle Hinterlassenschaft wurde ignoriert oder, wenn auch subtiler, weiterhin diffamiert, wie die Hermann Kantorowicz’ und Hans Kelsens24. Karl Larenz hat in seinen Nachkriegspublikationen die Polemiken gegen „Normativismus, Soziologismus und Psychologismus“ als „die drei Spielarten des Positivismus“ wiederholt, ohne sie allerdings wie früher üblich als „typisch jüdisch“ zu kennzeichnen25. Max Alsbergs Standardwerk, Der Beweisantrag im Strafverfahren, ein leidenschaftliches Plädoyer für das Beweisrecht des Strafverteidigers als dessen einzige Waffe, war nach Carl Schmitts Aufruf zur Entfernung „jüdischer Literatur“ aus den Bibliotheken aussortiert, und, was fast noch schlimmer ist, in der Bundesrepublik einem Staatsanwalt (Karl-Heinz Nüse) zur Überarbeitung gegeben worden. 1983 erschien die 5. Auflage, nun von einem konservativen Strafrichter fortgeführt, verstümmelt und mit entgegengesetzter Tendenz.
Die Bemühungen der Besatzungsmächte, nach dem Krieg die deutsche Rechtsordnung zu entnazifizieren, hatte die Juristenschaft regelrecht sabotiert. Zehn Jahre später kommentierte der badische Generalstaatsanwalt Karl S. Bader – beileibe kein alter Nazi –: „Nach 1945 mit großer Vehemenz auftauchenden Versuchen, englische und amerikanische Rechtsgrundsätze einzuführen, musste aus Gründen einer sinnvollen Rechtskontinuität entgegengetreten werden“26. Dabei hatten James Goldschmidt, Max Hirschberg und Max Alsberg bereits ähnliche Gedanken entwickelt, die allerdings schon von 1933 bis 1945 als liberalistisch und „undeutsch“ diffamiert worden waren.
In grotesker Verdrehung der Tatsachen schob man nach dem Krieg die Schuld am Niedergang des Rechts den „Rechtspositivisten“ zu. Für jeden, der die rechtstheoretische Debatte des Dritten Reichs kannte, hieß das: den jüdischen Juristen.
Hervorgetan hat sich bei diesen Schuldzuweisungen Hermann Weinkauff, erster Präsident des Bundesgerichtshofs, der noch 1968 die „pluralistische Gesellschaft“ und den „Pluralismus der Weltanschauungen“ Dinge nannte, „bei denen die Sache ebenso bedrohlich wie die Bezeichnung widerwärtig ist“27. Dagegen schwärmte er von einem „geschlossenen Richterstand, ja einem wirklichen Rechtsstand“28.
Und Anfang der Siebziger stellte Fritz Hartung – wie Weinkauff Reichsgerichtsrat a.D. – befriedigt fest, „auf juristischem, insbesondere strafrechtlichen Gebiet (hat) das nationalsozialistische Regime Fortschritte von grundlegender Bedeutung gebracht ..., die bis heute Bestand haben und aus dem Strafrecht nicht wegzudenken sind“29.
Er glaube, schrieb Rudolf Olden 1940 im Geleitwort zum Gedenkbuch Irmgard Littens für ihren Sohn, er glaube, „dass man bis heute nicht verstanden hat, was der Opfergang Hans Littens für uns, die Juristen, bedeutet“. Das gilt wohl auch heute noch, und nicht allein auf Hans Littens Martyrium bezogen, sondern auch das aller anderen, die für den Rechtsgedanken gestritten und gelebt haben, allzu oft auch gestorben sind, die daran festhielten, dass – so Olden weiter – „unser Beruf mehr sei, als eine bestimmte Methode der logischen Argumentation und als ein Gewerbe, nämlich der breite und feste Quader in der Grundlage abendländischer christlicher Zivilisation“30. Die geringe Rolle, die diese Erkenntnis heute in der Juristenausbildung spielt, zeigt die Größe und die Nachhaltigkeit des Verlustes, den das deutsche Rechtssystem durch die Auslöschung des jüdischen Elements erlitten hat.---1 2. Aufl., München 1990, S. 374 ff.--Copyright © Forum Justizgeschichte e.V. 2003-2008